Die Bilder von bis auf die Knochen abgemagerten Menschen in Äthiopien während der Hungersnot von 1984/85 haben sich mir für immer tief ins Gedächtnis gebrannt: Kinder mit Hungerbäuchen und Babys mit riesigen apathischen Augen. Für viele von uns sind sie bis heute Sinnbild für humanitäre Notfälle. Eine Million Menschen sind damals gestorben. Gut 30 Jahre später erlebt Äthiopien die schlimmste Dürrekatastrophe seit einem halben Jahrhundert und die Erinnerungen kehren zurück. Millionen Menschen sind wieder von extremem Hunger bedroht.
Auf dem Weg zum stärksten El Niño der Geschichte
Schuld an der Hungerkrise in Äthiopien ist vor allem das Klimaphänomen El Niño. Hinter dem harmlosen Namen – der im Spanischen „der Junge“ bedeutet – verbirgt sich eine Störung des ozeanographischen Systems im äquatorialen Pazifik. El Niño kommt ungefähr alle sieben Jahre und immer auf die gleiche Weise: Am Äquator erwärmt sich das Wasser, die Passatwinde schwächen ab oder drehen sogar ihre Richtung. Als Folge nehmen die Meeres- und Luftströmungen weltweit plötzlich einen veränderten Lauf. Das führt dann zu extremen Wetterphänomenen wie Stürmen und schweren Regenfällen in einigen Weltregionen. In anderen Weltregionen zu ausfallendem Regen und zu Dürren. Die meisten Klimaforscher sehen einen Zusammenhang mit der globalen Erderwärmung. Der El Niño von 2015/2016 gehört zu den drei heftigsten, die je gemessen wurden und könnte, wenn das Phänomen weiter anhält, sogar noch den bisher stärksten von 1997/98 übertreffen.
Äthiopien trifft es besonders hart
Besonders verheerende Auswirkungen hat der aktuelle El Niño für den Süden und den Osten Afrikas. El Niño hat die Länder dort mit voller Wucht getroffen. Mehr als 50 Millionen Menschen sind aktuell auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen. Am schlimmsten ist aber Äthiopien betroffen, das Land mit der zweitgrößten Bevölkerung des Kontinents. 18 Millionen Menschen sind von extremem Hunger bedroht, 10 Millionen davon als unmittelbare Folge von El Niño. Seit einem Jahr gab es dort so gut wie gar keinen Niederschlag mehr. 1,7 Millionen Kinder, schwangere und stillende Frauen brauchen dringend Unterstützung, 435.000 Kinder müssen bereits wegen Mangelernährung ärztlich behandelt werden. Durch die Wasserknappheit haben sich auch die ohnehin schon prekären sanitären Bedingungen extrem verschlechtert. Das Risiko von Infektionskrankheiten steigt. Als Folge von El Niño mussten schon über 180.000 Menschen ihre Dörfer verlassen. Es ist einfach schlimm.
Die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO beziffert die Ausfälle bei den Ernten in Äthiopien auf bis zu 90 Prozent, im Osten des Landes sind sie ganz ausgefallen. Bis zur nächsten Ernte dauert es noch Monate und die Unterernährung in der Bevölkerung steigt rapide an. Das ist in einem Land, wo ohnehin schon jeder dritte Mensch als unterernährt gilt, besonders dramatisch. Viele Kleinbauern verkaufen ihr Vieh, um irgendwie an Nahrungsmittel ranzukommen. Für den Moment hilft das nur bedingt weiter, weil die abgemagerten Tiere kaum mehr Geld einbringen. Für die Zukunft dieser Menschen aber wirkt das sogar desaströs, weil ihre Existenzgrundlage dahin ist.
Eine angekündigte Katastrophe
Schon seit Frühjahr letzten Jahres haben die UN und internationale Hilfsorganisationen davor gewarnt, welche Folgen El Niño für Äthiopien haben könnte. Die Befürchtungen sind jetzt eingetreten. Das Welternährungsprogramm hat den Bedarf an Hilfen für Äthiopien auf 1,2 Milliarden Euro beziffert. Bislang hat die internationale Gemeinschaft aber noch nicht mal 700 Millionen Euro zugesagt. Deutschland handelte früh und das BMZ hat für die akuten Auswirkungen von El Niño in Äthiopien schon 46 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, das Auswärtige Amt rund 3 Millionen. Es wird allerhöchste Zeit, dass alle Staaten ihrer Verantwortung nachkommen!
Hat Äthiopien alles richtig gemacht?
Ich möchte hier kein schwarz-weißes Bild zeichnen. Man muss auf der einen Seite klar anerkennend sagen, dass Äthiopien in den letzten Jahren beim Umgang mit Dürren und Hunger insgesamt große Fortschritte gemacht hat. Das steht außer Zweifel. Das starke Wirtschaftswachstum von jährlich bis zu 10 Prozent wurde zumindest in Teilen genutzt, um Schutzmechanismen zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu errichten. Man hat Sozialprogramme aufgebaut und ist auch bei der Reduzierung der Armut insgesamt vorangekommen.
Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, dass in Äthiopien eine autoritäre Regierung herrscht. Seit den Wahlen im vergangenen Jahr sitzt kein einziger oppositioneller Abgeordneter mehr im Parlament. Die Regierung hat besonders am Anfang der Krise versucht, negative Meldungen zurückzuhalten, um auf keinen Fall das Bild des erfolgreichen und aufstrebenden Staats zu gefährden. Selbstkritik und Eingeständnisse von Fehlern gehören nicht unbedingt zum Markenkern dieser Regierung. Darum hat man auch erst im Herbst letzten Jahres die internationale Gemeinschaft um Hilfe gebeten. Man hätte es früher tun müssen. Eine Hilfsaktion dieser Größe erfordert eine Vorlaufzeit von rund sechs Monaten.
Vernachlässigung kleinbäuerlicher Strukturen rächt sich
Äthiopien wird nach chinesischem Vorbild mit einem staatskapitalistisch ausgerichteten Ansatz regiert. Das Wirtschaftswachstum in der Hauptstadtregion und die vor allem auf Exportgüter ausgerichtete industrielle Landwirtschaft in einigen Teilen des Landes stehen dabei im Vordergrund der Wachstumsstrategie. Die Entwicklung vieler anderer ländlicher Gegenden wird diesem Ziel untergeordnet. Oft sind gerade Kleinbauern die Opfer der auf ausgewählte Landesteile fokussierten Wachstumsstrategie. Weil Äthiopien keinen privaten Landbesitz kennt, haben Bauern lediglich Nutzungsrechte auf Staatsland. Die Probleme dabei sind besonders, dass Kleinbauern wegen der Vorrangstellung des Anbaus von Exportprodukten immer wieder willkürlich zwangsumgesiedelt werden. Menschenrechtsorganisationen klagen hier deutlich an. Ohne Planungssicherheit, ohne substanzielle finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite für Bewässerung und Anbau, gepaart mit zunehmendem Bevölkerungsdruck, führt das insgesamt zu einem Absinken der Produktivität bei vielen Kleinbauern.
Und das macht sich in der aktuellen Krise deutlich bemerkbar, weil jetzt vor allem Menschen in den Teilen des Landes hungern, die durch kleinbäuerliche Strukturen geprägt sind. Gerade dort, wo die aktuelle Dürre besonders schlimme Folgen hat, wie in der Region Oromo, wurde in den letzten Jahren wenig getan.
Äthiopien braucht unsere Unterstützung
Sofort
Kurzfristig muss die internationale Gemeinschaft jetzt erst einmal ganz dringend die noch fehlenden finanziellen Mittel bereitstellen, damit genügend Nahrungsmittel gekauft werden können, um die Menschen zu versorgen. Sonst wird sich die Lage noch weiter verschlimmern. Die stockende Koordination der Nahrungsmitteltransporte muss schnellstens in Gang kommen. Die Abstimmung zwischen der UN, den äthiopischen Behörden und vor allem dem Nachbarland Dschibuti muss dringend verbessert werden. Denn: Ein Großteil der Nahrungsmittel kommt per Schiff über das Nachbarland Dschibuti.
Es kann nicht angehen, dass in Äthiopien die Menschen hungern und hunderte leere LKW für die Verteilung von Hilfsgütern bereitstehen, während in Dschibuti die Schiffe wegen mangelnder Koordination und bürokratischer Hindernisse vor den Kais dümpeln. Es muss hier darum schnellstens Bewegung reinkommen, bevor es zu spät ist!
Und auch danach
Mittel und langfristig müssen wir vor allem unsere Maßnahmen gegen den globalen Klimawandel weiter verstärken. Die Industrieländer müssen auch ihre Zusagen einhalten, die Entwicklungsländer bei der Bewältigung der Folgen des Klimawandels zu unterstützen. Für Äthiopien ist das besonders wichtig. Mit unserer Entwicklungspolitik müssen wir Äthiopien dabei helfen, seine Widerstandskraft gegenüber extremen Dürren, die El Niño dort auch in Zukunft bringen wird, zu erhöhen. Ein Beispiel sind dem Klimawandel angepasste Anbaumethoden und der Ausbau von Bewässerungssystemen und Notfallmechanismen zur Ernährungssicherung.
Wir Industrieländer sind für einen großen Teil des vom Menschen versursachten Klimawandels mit verantwortlich. Zu spüren bekommen ihn vor allem die Staaten, die wenig dazu beigetragen haben und Phänomenen wie El Niño kaum etwas entgegenzusetzen haben. Wir müssen hier zu unserer Verantwortung stehen. Jetzt und auch in der Zukunft.