Im Moment befinden sich 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, davon ist ein großer Teil, genau genommen 86%, innerhalb ihrer eigenen Länder oder in die umliegenden Staaten geflohen.
Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge sind Jugendliche unter 18 Jahren. Das verlangt einen Prozess des Umdenkens, des Vordenkens.
Vor allem aber müssen wir alle Dimensionen dieser Krise, die unsere europäische und globale Ordnung auf die Probe stellt, endlich anfangen, gemeinsam zu denken. Nicht isoliert voneinander, wie es oft in der Vergangenheit der Fall war.
Als Entwicklungspolitikerin liegt meine Aufgabe vor allem bei der Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Lange Zeit wurde der Entwicklungspolitik in der Öffentlichkeit leider keine sonderlich wichtige Stellung beigemessen. Durch die Flüchtlinge haben die Krisen und Konflikte, die sich bisher weit weg auf anderen Kontinenten und für uns meist nur im Fernsehen abgespielt haben, ein Gesicht und eine Stimme bekommen. Sie sind sichtbar und vor allem nah. Deswegen wächst in Politik und Gesellschaft die Einsicht, dass wir ohne Entwicklungspolitik weder unseren Wohlstand, noch Sicherheit, noch Frieden schaffen oder gar halten können. Darum müssen wir aufhören, meist nur die Symptome von Flucht zu bekämpfen, sondern wir müssen vor allem an die Wurzeln der Flüchtlingsströme heran treten und Fluchtursachen weltweit bekämpfen.
Was sind die hauptsächlichen Fluchtursachen und wie können wir diese bekämpfen?
In den Ländern, aus denen Menschen fliehen, herrschen ganz unterschiedliche Fluchtursachen vor. Was sie jedoch alle eint, ist die Perspektivlosigkeit, welche die Menschen in ihrer Existenz bedroht und zur Flucht bewegt. Das vorrangige Ziel der Fluchtursachenbekämpfung muss demnach lauten: Menschen vor Ort würdige Lebensumstände ermöglichen und Perspektiven in ihrer Heimat schaffen.
Kriege & bewaffnete Konflikte
Die Ursachen, die aktuell die meisten Menschen fliehen lassen, sind bewaffnete Auseinandersetzungen und Konflikte, wie zum Beispiel in Syrien, im Irak oder in Afghanistan. Allein mit Entwicklungspolitik können wir solche Konflikte nicht lösen, das ist klar. Ohne Entwicklungspolitik aber auf gar keinen Fall! Wir müssen unsere entwicklungspolitischen Maßnahmen im Umfeld von bewaffneten Konflikten noch viel stärker mit außen- und sicherheitspolitischen Maßnahmen in einem kohärenten außenpolitischen Ansatz verzahnen, um Stabilität zu schaffen und Konflikte einzudämmen, zu begrenzen und nach Möglichkeit in enger Abstimmung mit den anderen Politikfeldern ganz zu verhindern.
Dort, wo Armut herrscht, ist die Verzweiflung groß. Wer seine Familie nicht ernähren kann, ist auch empfänglicher für die gute Bezahlung militanter Terrorgruppen wie des IS oder der Taliban. Wer nichts zu verlieren hat, lässt sich eher von extremistischen Ideologien verführen. Wer mit täglicher Gewalt, Angst und Instabilität konfrontiert ist, bei dem steigt die Bereitschaft, die Gefahren der Flucht auf sich zu nehmen. Auch wenn er dabei sein Leben riskiert. Denn das riskiert er in seiner Heimat jeden Tag. Bei meinem Aufenthalt in Afghanistan habe ich selbst erlebt, wie sehr die Menschen unter der Angst vor Terroranschlägen leiden. Viele halten diese Angst und die täglichen Schreie der Verwundeten einfach nicht mehr aus und fliehen.
Destabilisierung ganzer Regionen verhindern
Nehmen wir den Fall Syrien. Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind zurzeit allein in Syrien 7,6 Millionen Menschen vor den Auseinandersetzungen innerhalb des Landes auf der Flucht. 4,1 Millionen sind in Nachbarländer wie die Türkei (2,1 Millionen), den Libanon (1,2 Millionen), Jordanien (630.000) und den Irak geflohen, wo rund 250.00 syrische Flüchtlinge und dazu noch 3,2 Millionen Binnenflüchtlinge leben. Die Nachbarstaaten Syriens sind darum einer enormen Belastung ausgesetzt, wodurch ein hohes Risiko der Destabilisierung dieser Staaten besteht. Dem müssen wir entgegenwirken. Darum schaffen wir mit unserer Entwicklungspolitik einen Beitrag zur Stabilisierung dieser Länder, schaffen die Voraussetzungen für eine würdige Versorgung der Flüchtlinge in den Lagern und Aufnahmegemeinden vor Ort und die Voraussetzungen für die spätere Rückkehr in ihre Heimat.
In den Gebieten, in denen Flüchtlinge aufgenommen werden, gibt es immer auch die Gefahr, dass der Eindruck von Ungerechtigkeit bei der einheimischen Bevölkerung entsteht. Deswegen müssen wir unsere Hilfe grundsätzlich so gestalten, dass die lokale Bevölkerung ebenfalls in die Entwicklungsmaßnahmen einbezogen wird und von diesen profitiert. Wenn also, um ein konkretes Beispiel zu nennen, Bildungsprogramme für syrische Flüchtlinge in den Anrainerstaaten aufgebaut werden, dann kommt ein Teil der Schulplätze auch Kindern aus den Aufnahmeländern selbst zu Gute. Nur so können wir Spannungen zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen vermeiden und verhindern, dass vor Ort Konflikte und damit neue Fluchtursachen entstehen.
Im Libanon zum Beispiel ist die Lage besonders schwierig. Hier gibt es keine Flüchtlingslager, sondern die Kommunen und Gemeinden nehmen die Neuankömmlinge auf. Bei einem Verhältnis von 1 Flüchtling auf 4 Einwohner, steht das kleine Land vor einer riesigen Herausforderung. Ein ausgewogener Mix aus schneller Soforthilfe, um die Not der Flüchtlinge zu lindern und langfristig wirksamen Maßnahmen, ist wichtig, um die Widerstandsfähigkeit der Gemeinden auch für die Zukunft zu stärken. Die Schwerpunkte unserer entwicklungspolitischen Arbeit im Libanon liegen darum in der Wasserversorgung, der Gesundheitsversorgung und dem Ausbau von Bildungseinrichtungen. Angesichts des hohen Anteils an Jugendlichen unter den Flüchtlingen, sind besonders Bildungsprogramme ganz wichtig. Das kann ich nur immer wieder betonen. Nur so haben die jungen Menschen eine Alltagsbeschäftigung, entwickeln Perspektiven und tun etwas für ihre Zukunft. Nicht zuletzt lernen sie in der Gemeinschaft auch mit den oftmals traumatisierenden Erlebnissen der Flucht umzugehen. Bildung schafft Perspektiven, Perspektiven verhindern Flucht. Wir versuchen viel richtig zu machen, aber immer gelingt es uns nicht. Ich habe bei meinem Besuch in den Flüchtlingslagern in Zaatari und Dadaab so vielen verzweifelten Menschen in die Augen gesehen, die nichts mehr hatten. Dass das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und das Welternährungsprogramm die Essensrationen für syrische Flüchtlinge in Jordanien halbieren mussten, weil die internationalen Geber ihre finanziellen Zusagen nicht eingehalten haben, ist einfach beschämend. Dann brauchen wir uns auch nicht zu wundern, wenn sich die Menschen weiter auf den Weg nach Europa machen.
An dieser Stelle möchte ich nun einmal innehalten. Weiterführende Gedanken und vor allem weitere Möglichkeiten, die wir zur Bekämpfung der Fluchtursachen angehen sollten, findet Ihr morgen im zweiten Teil des Blogs.