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Dieser Artikel stammt aus der Zeit meiner politischen Arbeit bis Oktober 2017 und kann überholte Informationen enthalten.
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Dramatische Katastrophe mit Ankündigung: Solange die Menschen in ihren Heimatländern keine wahren Perspektiven haben, werden die Flüchtlingsströme im Mittelmeer kaum aufhören.

Lampedusa und Malta – Ziel tausender Flüchtlinge aus Afrika
Es sind dramatische Bilder, die uns seit dem 3. Oktober vom südlichsten Ausläufer Europas erreichen. Auf dem Weg von Libyen nach Europa kenterte an diesem Tag vor der italienischen Insel Lampedusa wieder einmal ein Boot. An Bord waren etwa 545 Flüchtlinge, von denen zwischen 320 und 390 Menschen die Katastrophe nicht überlebten. Gerade einmal eine Woche später ertranken wieder einige Dutzend Menschen zwischen Lampedusa und Malta im Mittelmeer. Insgesamt geht man derzeit von 17.000 toten Flüchtlingen im Mittelmeer aus. Die Zahlen sind schockierend, sie sind aber keineswegs überraschend.

Bereits im Jahr 2003 wurden auf Lampedusa 8.000 Flüchtlinge registriert, im Jahr darauf waren es 13.000 und im Jahr 2005 dann 20.000. Die Flüchtlingsströme konnten zwar für einige Jahre verringert werden, doch spätestens mit den Protestbewegungen in vielen arabischen Ländern hat die Zahl der illegalen Einwanderer seit 2011 nun wieder stark zugenommen. Mich macht dabei besonders betroffen, dass wir seit Jahren hier keine Lösungen finden, obwohl wir das Problem und dessen Ursachen kennen.

Perspektivlosigkeit als Motivation zur Flucht
Bereits während meiner Reise nach Tunesien und Ägypten im September 2011 habe ich davor gewarnt, dass wir die Perspektivlosigkeit der Menschen in Nordafrika und in den Ländern der Sahara nicht unterschätzen dürfen. Denn oft sind es nicht die Ärmsten und Schwächsten, die sich zur Flucht entscheiden. Es sind vielmehr jene, die für sich und ihre Familie mehr erreichen wollen und können, dafür aber keine Perspektiven sehen. Es sind die Menschen, die gerne für ein kleines Häuschen arbeiten möchten, die ihren Kindern den Schulbesuch finanzieren wollen und die in Frieden und Stabilität leben möchten. Spätestens seit wir feststellen mussten, dass die Länder des Arabischen Frühlings noch viele Jahre – vielleicht sogar Jahrzehnte – brauchen, um dringend notwendige Reformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft umzusetzen, sehen auch die Anhänger der Protestbewegungen und deren Sympathisanten keinen anderen Ausweg, als den afrikanischen Kontinent zu verlassen und in Europa nach Chancen zu suchen.
Jeder von uns kann die Motivation dieser Menschen, den Traum nach einem besseren Leben, verstehen! Und umso dramatischer finde ich es, wenn wir nichts für sie tun können, wenn wir dabei zusehen müssen, wie sie kurz vor den Toren Europas ertrinken. Eines ist klar: Die Lösung der europäischen Flüchtlingsproblematik ist ein Langzeitprojekt, es zieht alle Länder und alle Bereiche der Politik zur Verantwortung und es zwingt uns dazu, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen.

Migration
Migration ist so alt wie die Menschheit; schon immer waren Menschen unterwegs – ob freiwillig oder gezwungenermaßen. Derzeit leben etwa 216 Millionen Menschen außerhalb ihrer Geburtsländer, das sind drei Prozent der Weltbevölkerung. Im Jahr 2011 hatten in Deutschland fast 19 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Diese Menschen sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft und ganz Europa ist seit jeher ein ethnisch bunter Kontinent. Noch weitere zehntausend Menschen aus Entwicklungsländern bei uns aufzunehmen, wäre für uns sicher keine große Belastung. Ohnehin nimmt Deutschland im europaweiten Vergleich die meisten Asylbewerber auf. Ende 2012 lagen wir damit weltweit hinter Pakistan und dem Iran auf dem dritten Platz der Länder mit den meisten aufgenommenen Flüchtlingen. Auch gemessen an der Bevölkerung liegt Deutschland bei der Anzahl der Asylbewerber weit vor Italien, Spanien und Griechenland. Schwierig ist es hingegen tatsächlich auf den kleinen Inseln wie Malta und Lampedusa. Die Problematik einzig an der Zahl der aufgenommenen Menschen festzumachen, bringt uns einer Lösung allerdings keinen Schritt weiter.

Abschirmen und Aufhalten
Die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union“ – kurz Frontex – und das am 10. Oktober 2013 beschlossene und darin eingegliederte „Europäische Grenzüberwachungssystem“ (Eurosur) dienen hauptsächlich dem Informationsaustausch der Mitgliedsstaaten und somit dem Schutz und der Rettung von in Not geratenen Menschen. An Frontex gab es in den vergangenen Jahren oft Kritik und es war absolut falsch, halb verdurstete Menschen nach Tagen und Wochen auf hoher See  zu zwingen, in den Heimathafen zurückzukehren. Europa hat hier eine humanitäre Verantwortung und wir dürfen in einem solchen Fall die Augen vor dem Leid der Menschen nicht verschließen! Die Einhaltung grundlegender Menschenrechte darf nicht erst am Strand von Lampedusa beginnen; sie muss viel früher einsetzen. Wer glaubt, die Menschen so von einer Flucht abzuhalten, täuscht sich gewaltig und wer fordert, Migration an sich zu bekämpfen, kennt die Wurzeln des Problems nicht. Wir alle müssen uns bewusst sein, dass Frontex und Eurosur lediglich Überprüfbarkeit und mehr Sicherheit schaffen können. Die Motivation der Afrikaner verringert dies allerdings nicht, die Reise nach Europa anzutreten.

Politik, die Lösungen schafft
Seit einigen Jahren ist einer der Schwerpunkte unserer Entwicklungszusammenarbeit, beispielsweise mit Tunesien und Ägypten, die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Kleine und mittlere Unternehmen vor Ort werden gefördert, der Austausch mit internationalen Unternehmen wird unterstützt, Frauen sollen auch Möglichkeiten haben, ihr eigenes Geld zu verdienen und es gibt die Möglichkeit Mikrokredite für Unternehmensgründungen zu vergeben. All dies sollte Antwort auf die Perspektivlosigkeit der Menschen dort sein. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit in Tunesien und Ägypten unverändert hoch. In Ägypten sind in diesem Jahr 13,55 Prozent der Bevölkerung arbeitslos und in Tunesien sind es etwa 11 Prozent. Die Entwicklungspolitik kann hier alleine keine Lösungen schaffen. Wir benötigen einen präventiven Ansatz aller Politikfelder in Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft. Unsere duale Ausbildung ist ein im Ausland oft gelobtes System, das es vor allem den jungen Menschen ermöglicht, Arbeit zu finden. Und wir müssen vor Ort für die Möglichkeiten legaler Zuwanderung werben – wie es beispielsweise Paragraph 18c im Aufenthaltsgesetz ermöglicht.

Wir müssen uns jedes einzelne Land anschauen und entscheiden, was brauchen die Menschen vor Ort und wie können wir ihnen die Perspektiven ermöglichen, die sie benötigen, um sich und ihren Familien zu Hause etwas aufbauen zu können, das auch Bestand hat. Wie versetzen wir die Ägypter, die Tunesier und alle anderen in die Lage, selbst für die Weiterentwicklung ihres Landes zu sorgen!? Indem wir ihnen das Handwerkszeug geben und die Möglichkeiten, dies zu nutzen.
Für die Flüchtlingsströme aus Nordafrika dürfen wir keinesfalls nur die Entwicklungspolitik alleine verantwortlich machen. Dennoch sind es genau diese Menschen, die nichts zu Hause hält, die mit ihrer Flucht aus der Heimat unserer Politik ein Armutszeugnis ausstellen.


Motivation unserer eigenen Politik
Bei aller strategischer Planung für eine neue Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern in Nordafrika und in der Sahara dürfen wir eines nicht vergessen: Wir gestalten unsere Politik nicht primär für uns und zur Vermeidung der Flüchtlingsströme, sondern wir gestalten Politik zum Wohle Afrikas. Für diesen Kontinent ist es eine Tragödie, dass so viele junge, fähige und starke Menschen keine Perspektiven haben. Denn sie sind es, die ihre Heimatländer nach vorne bringen könnten. Das heißt für mich konkret: Unsere Entwicklungszusammenarbeit wird in den kommenden vier Jahren nur erfolgreich sein, wenn wir es schaffen, den jungen Männern, den Frauen und Kindern Chancen und Möglichkeiten zu eröffnen, die ihnen langfristig ein Leben in Sicherheit und Wohlstand zu Hause ermöglicht.

Unser Ziel muss es sein, den Schleuserbanden die Kunden zu nehmen, indem wir kurzfristig für eine hohe Präsenz an Aufklärungs- und Rettungsbooten im Mittelmeer sorgen, mittelfristig die Menschen darüber aufklären, wie gefährlich die tagelange Überfahrt in einem überladenen Boot sein kann und langfristig alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die Menschen in Ägypten, Tunesien, Libyen, Eritrea, Somalia und anderswo zu überzeugen, dass sie zu Hause jene Perspektiven haben, die sie sich andernorts erhoffen.

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